Das ist die "Pforte zum Himmel", steht über dem Portal der 1893 fertiggestellten Pfarrkirche St. Vitus. Eine subtile Antwort von Pfarrer Max Muggenthaler auf das Gerede vom "Deckel über der Hölle".

 

Ein Deutungsversuch von Herbert Zauhar


In seine
m 1949 erschienenen Buch „Das Pandurenstüberl“ von Max Peinkofer schreibt dieser, dass Tittling im Volksmund als „Deckel über der Hölle“ bezeichnet wird.

Wie kam Peinkofers Geburtsort zu diesem früheren Beinamen?

Es gibt vier Orte in Niederbayern, die man mit diesem oder leicht abgewandeltem, wenig schmei­chelhaften Titel versehen hat: Tittling, Fürstenzell, Viechtach und Zwiesel.

Bei Tittling und Fürstenzell ist laut Helmut A. Seidl alles klar. „Die Leute dort seien früher schlimm gewesen.“

Bei Viechtach gibt es eine andere Erklärung:

Zwischen Viechtach und Gotteszell ist der Deckel von der Höll‘! Da hält sich kein Schnee.“ Hin­tergrund soll eine klimatische Besonderheit sein. „Dort bleibt der Schnee nicht lange liegen. Vom Boden her kommt es immer warm“ folgert Reinhard Haller. Davon soll sich der Spitzname Deckel von der Höll‘ für Viechtach ableiten.

Zwiesel steht über der Höll‘!

Heute hat man dort eine eher harmlos klingende Erklärung. In Zwiesel geht oft mitten im Winter der Schnee weg, während er anderswo im Wald noch lange liegen bleibt.

Helmut A. Seidl weist auf andere Erklärungsmöglichkeiten hin. Zwiesel war Anfang des 15. Jahr­hunderts hussitisch und es gab hier ab 1803 eine bis heute bestehende protestantische Kirchenge­meinde, und das im ansonsten tief katholischen Bayerwald. Eine Andersartigkeit in der Konfession sahen früher viele als groben Makel an.

Durch eine Indizienkette soll aufgezeigt werden, warum Tittling in früherer Zeit zum Beinamen „Deckel über der Hölle“ gekommen sein könnte. Ein Einzelereignis oder eine Erklärung wie bei den anderen Ort ist unbekannt.

Auf der Suche nach einer Begründung

Tittling ist seit jeher ein zentral liegender, lebhafter Ort. Zur Zeit der Erstellung des Urplans ca. 1825 und davor war Tittling der eindeutig größte Ort zwischen Schönberg/Grafenau und Passau, auch wesentlich größer als Hutthurm.

Viele Wegeverbindungen führten bis zur Fertigstellung der Umgehungsstraße über den Marktplatz. Durch den Ort führte die Hauptverkehrsader Passau – Tittling – Schönberg und auch aus Richtung Vilshofen, Thurmansbang, Perlesreut, Fürsteneck und Hutthurm gibt es seit Jahrhunderten Wege­verbindungen. Letztere drei Orte gehörten früher zum Fürstbistum Passau, lagen also im „Ausland“.

Da war im Ort immer etwas los. Durchreisende brachten Neuigkeiten mit und verbreiteten „Tittlin­ger Geschichten“ auch in weit entfernten Gegenden. Aus den umliegenden Ortschaften kamen die Bewohner zum Kirchbesuch, neugierig, was es alles an Neuigkeiten gab. Besonders hoch ging es an den Markttagen her. Viele auswärtige Besucher kamen nach Tittling, man feilschte um einen guten Preis und besuchte anschließend eines der Wirtshäuser, in denen das im örtlichen, schon vor 1510 bestehenden Brauhaus gebraute Weißbier oder Wein ausgeschenkt worden ist.

Man traf sich mit Verwandten und Bekannten und tauschte Neuigkeiten aus. Man begegnete Durch­reisenden und auch Leuten, mit denen man noch eine Rechnung offen hatte oder lieber aus dem Wege gehen wollte.

Von der guten Verkehrslage profitierten auch die Handwerker und Geschäfte am Ort, die im Regel­fall zusammen mit einer kleinen Landwirtschaft ihr Auskommen hatten.

Es rührte sich was in Tittling, viel mehr als an anderen, abgelegeneren Orten.

Es entwickelte sich daraus offensichtlich ein besonderes Selbstbewusstsein „der Tittlinger“.

Auswertung der Urteile des Hofmarkgerichts Tittling 1587/88

Die Hofmark Tittling hatte auch die niedere Gerichtsbarkeit, die vom Hofmarkgericht ausgeübt worden ist. Das Zusammenleben verschiedener Menschen brachte mancherlei Probleme mit sich.

Michael Fischl hat im Heft 10 der Reihe „Archiv für das Dreiburgenland“ Urteile des Tittlinger Hofmarkgerichts des Bauernjahrs 1587/88 zusammengestellt.

Der eigentliche Ortskern von Tittling (Markt) hatte damals nur um die 20 Anwesen. Hier herrschte besonders reges Leben.

Bestraft wurden in 56 Verhandlungen insgesamt 64 Personen. Ihre Vergehen verteilten sich wie folgt:

19 Ehrverletzungen (Beleidigung, Verleumdung)

21 Körperverletzungen (Schlägereien, Raufhändel ohne Blutvergießen) und 5 mit Blutvergießen

10 Vergehen in Feld, Wald, Wiese (Flurschäden)

5 Markt- und Gewerberechtsverletzungen

1 grober Unfug (nächtliche Schießerei)

2 Diebstähle des Gewehrs eines anderen Mitbürgers aus dem Schloss

1 Liebschaft mit Folgen eines ledigen Dienstboten mit der Tochter des Hauses

In 30,4 % der Fälle geschahen die Vergehen im betrunkenen Zustand und/oder im Wirtshaus. Bier- oder Weinkrüge wurden als Waffe eingesetzt. Einzelne Täter benutzten Hirschfänger.

Es fällt auf, dass in diesem Jahr „kleine Diebstähle“, die zur niederen Gerichtsbarkeit einer Hof­mark gehörten, bis auf zwei Gewehrdiebstähle nicht vorkamen.

Die Herkunft der Täter

Die 64 Täter wurden in Tittling abgeurteilt, aber waren es ausschließlich Tittlinger?

15 Personen (23,4%) stammten aus dem heutigen Ortskern von Tittling (Markt) selbst,

19 (29,8%) kamen aus den damals eigenständigen Ortsgemeinden (heute Ortschaften von Tittling),

15 (23,4%) kamen aus den Nachbargemeinden (Witzmannsberg, Neukirchen v. W., Fürstenstein und Saldenburg und 15 (23,4%) Verurteilte wohnten weiter weg, u. a. in Schönberg, Eppenschlag, Per­lesreut, Fürsteneck, Hutthurm, Aicha v. W., Eging, Fürstenstein, Ruderting und Ortenburg.

Die Herkunft der Geschädigten

37 Opfer/Geschädigte (65%) kamen aus Tittling (Markt und Ortschaften),

13 (22,8%) aus den Nachbargemeinden und

7 Personen (12,2%) wohnten weiter weg.

Für Verbreitung der Neuigkeiten war gesorgt

Die meisten der „gerichtsmassigen“ Vorfälle wurden von Zuschauern beobachtet und waren fortan nicht nur Gesprächsstoff am Ort, sondern wurden von den auswärtigen Besuchern daheim in den Stuben und Wirtshäusern sogleich als Neuigkeit verbreitet. Die Geschädigten werden sich ähnlich verhalten haben.

Woaßt was in Tittling scho wieder passiert ist?“, hat es sicher oft geheißen. Und besonders interes­sante Vorfälle kamen wohl jahrelang immer wieder zur Sprache.

Für das Hofmarkgericht gab es über Jahrhunderte etwas zu tun

Vorfälle wie 1587/88 geschahen jedes Jahr mehrfach, manches Jahr sicher noch viel schlim­mere Sa­chen. Am interessanten waren wohl Verstöße gegen die Sitten- und Moralvorstellungen, die damals viel strenger waren und nicht nur vom Expositus oder dem Kaplan angeprangert worden sind.

Manchmal endeten Verstöße vor dem Hofmarkgericht, so wie z. B. 1706 das Liebes­verhältnis zwei­er lediger Schlossbediensteten.

Da sammelte sich im Laufe der Jahrzehnte und -hunderte einiges an, immer verbunden mit dem Na­men Tittling, ausschließlich dem Ort zugerechnet und weit verbreitet in der Umgebung.

Kein Wunder, dass damals Tittling nicht den besten Ruf hatte.

Die Gründung der Gendarmeriestation Tittling im Jahr 1817

Wenige Jahre nach der Gründung der politischen Gemeinde Tittling wurde im Jahr 1817 die heutige Polizeistation Tittling begründet. Sie ist die älteste heute noch bestehende Polizeistation im Altland­kreis Passau.

Bei der Auswahl des Standorts war wohl die zentralörtliche Lage und das damit verbundene beson­ders pulsierende Leben maßgeblich. Alle Delikte und Straftaten vor Ort und im Umkreis, die von der Gendarmeriestation zu bearbeiten waren, wurden wohl mit dem Namen des Polizeistandorts in Verbindung gebracht.

Der Streit um den ersten Tittlinger Friedhof

Die selbstbewussten und zuweilen aufrührerischen Tittlinger Bürger begehrten immer wieder gegen die Hofmarksherrschaft auf, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. Auch mit der Geistlichkeit am Ort und mit dem Pfarrer von Neukirchen legten sie sich beizeiten an. Ein besonders heftiger Streit entzündete sich an der Friedhofsfrage.

Obwohl Tittling (Markt) wesentlich größer war als Neukirchen vorm Wald, war Tittling „nur“ Ex­positur der Pfarrei Neukirchen. Taufen und Trauungen konnten zwar in Tittling abgehalten werden, aber alle Toten mussten in Neukirchen beerdigt werden.

Lange bemühten sich die Tittlinger um Errichtung eines eigenen Friedhofs. 1821 konnte dieser in der Färbergasse (heute Lagerplatz Sägewerk Schlattl) errichtet werden.

Der große Widerstand aus Neukirchen vorm Wald blieb bestehen. Für den Pfarrer, Mesner, Totengräber und den Wirt von Neukirchen bedeutete die Neuerung wirtschaftliche Einbußen.

Die Bewohner der Tittlinger Ortschaften, die den Marktbürgern distanziert gegenüber standen, wur­den vom Neukirchner Pfarrer ermuntert, ihre Toten weiterhin in Neukirchen vorm Wald zu bestatten. Der Streit schwelte unvermindert weiter.

Auf Einladung des Geistlichen Wingenfeld aus Grainet, der sich um die Pfarrerstelle von Neukir­chen bemühte, fand am 4. Januar 1823 im Wirtshaus in Neukirchen eine Versammlung statt, bei welcher für die bisherige Beerdigungspraxis geworben werden sollte. Tittlinger kamen, aber in an­derer Absicht. Sie schlugen im Streit um den eigenen Gottesacker alles kurz und klein. Ein zufällig hinzu gekommener Gendarm wurde dabei „wörtlich und tätlich misshandelt“.

Man kann sich ausmalen, dass der Neukirchner Pfarrer auf die „bösen“ Tittlinger und den Ort selbst nicht gut zu sprechen war.

Nun, nach Tittling kommen Sie?“

So beginnt der Eintrag des Hilfspriesters Thomas Braun (1816 – 1884) in der Pfarrchronik, als er über seine erste Kaplanstelle im Jahr 1844 in Tittling berichtete.

Nun, nach Tittling kommen Sie? Da sind sie nicht zu beneiden, unter dieses Volk hinein. Sind we­nige Bürger im Markt, die nicht schon im Zuchthaus gewesen wären. Da wird gerauft, geschlagen und gestochen, was (das) Zeug hält. Sogar Giftmischer gibt es draußen. Seien Sie unter diesen Leu­ten vorsichtig, da haben Sie einen harten Standpunkt. Tittling ist bekannt wie das saure Bier. So sagt man mir zu Passau, zu Vilshofen und in meiner Heimat Münchham. Dass die Zehner in den (Spiel)Karten sogar zu Salzburg drinnen „Tittlinger Menschen“ heißen, erzählte mir ein Ohrenzeu­ge.“ 

Weiter schreibt er, dass bei seiner Durchreise in Passau gerade eine gerichtliche Kommission aus Tittling zurück kam, die dort einen tot oder halbtot geschlagenen oder gestochenen Burschen in Augenschein genommen hatte. Allerdings hätten ihm zwei Geistliche, die vor Jahren in Tittling tätig waren, nichts Nachteiliges berichtet!

Sein Hinweis auf „Giftmischer“ könnte auf einen Vorfall im Jahr 1833 zurückzuführen sein.

Der aus Tittling stammende Bäckergeselle A. Späth wurde an seiner Arbeitsstelle in Obereging Op­fer eines Giftanschlags mit Arsenik. Täter waren der Halbbruder Späths und der Krämersohn Laro­se, beide aus Tittling. Sie hatten eine so große Menge des Gifts in den Kaffee eingerührt, dass man später noch einen fingerdicken Satz davon in der Tasse fand. Späth überlebte schwer verletzt den Anschlag.

Zeitungen sorgen für die bayernweite Verbreitung der Nachrichten

Ab dem 19. Jahrhundert erschienen vielerorts Tageszeitungen. So wurden Delikte jeglicher Art schnell und weit verbreitet. Darunter gab es immer wieder Fälle schwerer Körperverletzungen und einige Tötungsdelikte aus Tittling und Umgebung.

Auch in den besseren Kreisen gab es Vorfälle, die für Gesprächsstoff sorgten. Im Jahr 1846 bekam der Gerichtshalter Klein von der Englburg Probleme, weil er mit seiner Geliebten im Schloss zu­sammenlebte und diese ihr zweites Kind von ihm erwartete. Auf Betreiben des bischöflichen Ordi­nariats wurde Klein vom Landgericht vorgeladen und zur Beendigung des Konkubinats aufgefor­dert.

Die Kämpfe der Geistlichkeit mit aufmüpfigen, unmoralischen Bürgern

und de­ren politisches Aufbegehren

In der Pfarrchronik finden sich in der Zeit des Expositus Joseph Bauer, der von 1860 bis 1869 in Tittling war, vermehrt Einträge über das in den Augen der Geistlichkeit sittenlose, unmoralische Verhalten vieler Tittlinger, das er als Grund für den schlechten Ruf Tittlings ansah.

Tittling war offensichtlich von Haus aus kein einfacher Ort für einen Geistlichen. Es war eine Zeit des Umbruchs und des Aufbegehrens gegen althergebrachte Strukturen und überall kämpften viele Bürger um Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung, so auch in Tittling.

Über den großen Brand im Ortskern im Jahr 1864 findet sich ein langer Bericht über das Brander­eignis in der Pfarrchronik und die Schlussfolgerungen des damali­gen Ex­positus Bauer.

Dass so schweres Unglück über den Markt von Gott zugelassen wurde, darf keinen Wunder neh­men, der das Tun und Treiben dieser größtenteils gottvergessenen, verdorbenen Einwohnerschaft seit Dezennien (= Jahrzehnten) kennt. Den Schreiber wundert es nur, dass der gerechte Gott nicht noch eine weit schärfere Züchtigung verhängt hat. Man will kein Sündenregister dieses weit und breit wegen seiner Liederlichkeit verrufenen Marktes, des sog. Deckels über der Hölle auffahren, doch einiges muss zur Bestätigung des Gesagten für die Nachwelt, die Tittling in einem anderen, besseren Stadium schauen möge, hierher gesetzt werden.

In ein paar Kneipen ergoss sich von jeher der Sturm der sonntagsschänderischen Burschen und Männer – da summte es während des Gottesdienstes wie in einem Bienenstocke – Herr Wirt und Frau Wirtin bediente die Satanssippenschaft eifrigst. Andere lungerten während des Gottesdienstes auf dem Blümersberge oder machten Spaziergänge um die Felder. Des Nachmittags ward gesoffen, gekegelt, gespielt, in der Nacht gerauft, die Leute aus dem Schlafe geweckt, Fenster eingeworfen.

Die Unzucht hat sich fast in jedes Haus in dieser oder jener Form eingenistet. Weibspersonen aus anderen Gemeinden lassen sich in Stuben von ihren Zuhältern ernähren und führen das skandalö­se Leben zusammen. Wenige Töchter bewahren noch ihre jungfräuliche Ehre. In den meisten Häu­sern befinden sich uneheliche Kinder. Die Eltern schauten dem Schandleben ihrer Kinder und Un­tergebenen in der Regel zu, sie erblicken ja an ihnen ihre getreuen Nachfolger auf den Wegen des Lasters, auf denen sie selber ehemals einher gegangen! Arbeitsscheue Burschen und Dirnen weist Tittling in Fülle auf!

Die alten Tittlinger gehen an ihrer Liederlichkeit zugrunde und es werden in kurzer Zeit, so wie es schon teilweise der Fall ist, fast lauter Fremde auf den Anwesen der ehemali­gen Tittlinger Bürger hausen!“

Interessant ist die Verwendung des Begriffs „Tittling, der Deckel über der Hölle“ beim Eintrag von 1864.

Das politische Bewusstsein der Bürger wächst

Der Ärger über diese liederlichen und widerspenstigen Tittlinger nahm in dieser Zeit für Expositus Bauer und Koadjutor Weber noch zu und wurde in der Pfarrchronik festgehalten. Namhafte Bürger hatten einen politischen Leseverein gegründet. Neben alteingesessenen Bürgern schlossen sich nach Tittling gekommene Personen, wie Arzt, Apotheker, Lehrer oder Gendarmen zusammen. Sie trafen sich im Gasthaus Baldini, tauschten liberale, „fortschrittliche“ Zeitungen aus und diskutierten über Veränderungen in Staat und Gesellschaft. Es war die Zeit eines politischen Aufbruchs in Bayern und anderen deutschen Landen.

Der exkommunizierte Priester Braun taucht 1869 in Tittling auf

Der uns schon aus dem Jahr 1844 bekannte kritische Priester Thomas Braun trat im Jahr 1869 er­neut in Tittling in Er­scheinung. Zwischenzeitlich war er exkommuniziert und mit dem Kirchenbann belegt worden, da er sich 1854 geweigert hatte, das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mari­ens anzuerkennen. Dies und seine Schriften waren ein großes Ärgernis für die Amtskirche. Auch Brauns Anhänger wurden exkommuniziert.

Im April 1869 verstarb eine Anhängerin Brauns, die Tittlinger Schuhmacherstochter Klara Radlin­ger, unversöhnt mit der Kirche. Sie lehnte strikt den Beistand eines katholischen Geistlichen ab, verlangte vielmehr nach dem exkommunizierten Thomas Braun, der auch die Sterbezeremonien im Sterbehaus verrichtete, aber nicht an der Beerdigung teilnahm.

Im Sterbebuch vermerkte der Expositus die Begleitumstände beim Todesfall, die ihn sichtlich schwer geärgert haben und seine Meinung über diese verdorbenen Tittlinger erneut bestärkt hat:

Klara Radlinger, vom exkommunizierten Priester Thomas Braun zur Leugnung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens verleitet, ward deshalb gleichfalls öffentlich exkommuniziert und starb als beharrliche Abtrünnige des christlichen Glaubens, ohne sich mit der Kirche auszu­söhnen. Sie ward darum ohne Sang und Klang, ohne geistliches Geleit und Einsegnung auf dem nordwestlichen Eck des Friedhofs beerdigt.“

Das Neueste Bayerische Volksblatt berichtete darüber und mokierte sich über die Tittlinger „Fort­schrittler“. Diese beteten am Grab laut den Rosenkranz, den sie doch sonst immer strikt ablehnten. „Das ist eine lächerliche Heuchelei.“

Für den größten Teil der Bevölkerung war das sicher ein Riesenskandal, der sich schnell und weit herumgesprochen haben dürfte.

Der politische Streit nimmt zu

In ganz Bayern bildeten sich damals zwei politische Lager: eine konservative, kirchenfreundliche (bayerisch-patriotische) Gruppierung, der auch viele Geistliche angehörten und kirchen- und obrig­keitskritische Liberale, auch Fortschrittler oder Fortschreiter genannt, vom Expositus als „Erzfort­schrittliche“ bezeichnet. Bei der 1. Reichstagswahl 1871 in Tittling waren die Fortschrittler klar in der Mehrheit, ebenso bei der Gemeindewahl im gleichen Jahr.

Es gab in Tittling gegenseitige Anfeindungen und der Streit wurde sogar gerichtsmassig. In einer Predigt wetterte Expositus Bauer heftig gegen die allseits bekannten Mitglieder des liberalen Lese­vereins. Diese seien Männer ohne Ehre, charakterlos und man sollte keinen Umgang mit ihnen pfle­gen. Außerdem sollten die Bürger auf das Lesen dieser liberalen Zeitungen verzichten und den Treffpunkt der Fortschrittler meiden.

Dies empfanden die Mitglieder des Lesevereins als ehrenrührig und klagten vor Gericht. Expositus Bauer wurde zu einer Geldstrafe von 50 Gulden und Übernahme der Gerichtskosten verurteilt und musste das Urteil in beiden Passauer Zeitungen veröffentlichen.

Nach dem gewonnenen Prozess fühlten sich die Mitglieder des Lesevereins obenauf, hielten im Gasthaus Baldini Freudenfeiern ab, so auch am 15. April 1869. Am Abend dieses Tages brach auf der Kegelbahn des Baldini ein Feuer aus, das auf andere Häuser am Marktplatz übergriff.
In der Pfarrchronik wird dies als Strafe Gottes über das gottlose Tittling angesehen. „Möchte es für die Schlechten eine Mahnung sein.“ Andererseits wurden aber auch „meistens ganz ordentliche Männer vom Unglück getroffen“ hieß es bedauernd.

Auch der Nachfolger von Bauer, der Expositus und spätere Pfarrer Joseph Stinglhamer, der 1869 nach Tittling kam, hatte so seine Schwierigkeiten mit den Tittlingern.

Die erste Reichstagswahl – auch in Tittling tobte der Wahlkampf

Bei den Reichstagswahlen 1871 kandidierten im Wahlbezirk Passau der Fortschrittler Friedrich Freiherr von Wullfen gegen den konservativen Vertreter der Kath. Volkspartei, Gymnasialprofessor Franz Xaver Greil. Letztlich setzte sich Greil durch, aber in Tittling, Witzmannsberg und vielen an­deren Orten bekam Wullfen weitaus die meisten Stimmen. Das Wahlergebnis in Tittling: Wullfen 180, Greil 24 und Witzmannsberg 110 Stimmen für Wulffen und nur 16 für Greil.

Natürlich war Expositus Stinglhamer und sein Koadjutor Eder auf Seiten des konservativen Greil.
Das Wahlergebnis erklärt die überaus starke Gegnerschaft am Ort, die die beiden Geistlichen gegen sich hatten, für diese war Tittling sicher kein Wunschort.

 

Es wurde mit harten Bandagen und auch auf die unfeine Art gekämpft.

In der konservativen Donauzeitung findet sich eine „anrüchige“ Nachlese zur Reichstagswahl 1871.

In der Nacht nach dem Wahltag wurde einem konservativen Tittlinger Bürger die Haustür mit Greil-Wahlzetteln überklebt und das Ganze mit Menschenkot bestrichen.

Die Tittlinger Fortschrittler sollten sich hüten, bei anderen Schmutzflecken zu suchen, wo sie doch selber bis zum Hals in Schmutz und Schlamm stecken, kommentierte dies die Donauzeitung.

Die liberale Passauer Zeitung schrieb im September 1871 ebenfalls über Vorkommnisse in Tittling und mokierte sich über den Expositus Stinglhamer. Dieser habe sich über das Fernbleiben der Titt­linger Jugend bei einer kirchlichen Feier so geärgert, „dass sich derselbe zu dem schrecklichen Ge­ständnisse veranlasst sah, dass Tittling wirklich der Deckel über die Hölle sei, was man ihm zwar schon längst gesagt, er aber es trotz seines bekannten starken Glaubens doch nicht geglaubt hat.“

Expositus und Lehrer – ein oftmals angespanntes Verhältnis

In den Folgejahren gab es immer wieder Probleme des jeweiligen Expositus mit den meist liberal eingestellten Lehrern. Diese standen unter der Fachaufsicht des jeweiligen Expositus. Neben dem Schuldienst hatten sie auch Mesnerdienste zu verrichten und die Orgel zu spielen. Da gab es viele Reibungsmöglichkeiten. In der Pfarrchronik hielt man sich mit Urteilen über unliebsame Lehrer nicht zurück. Es finden sich Beinamen wie Trunkenbold, Lügner, Verleumder, hochfahrendes Bürschchen.

Über einen zugewiesenen Schulgehilfen schrieb Stinglhamer 1875: „An der Seite eines solchen Mesners und Schullehrers leben, ist ein Fegefeuer auf Erden. Ist aber ein ausgezeichneter Musiker, auch in der Kirche.“

Im Jahr 1878 findet sich erneut ein Eintrag in der Pfarrchronik über das sittenlose Treiben der Leh­rerschaft. Die leicht­sinnige Oberlehrerin von der neuen Mädchenschule wurde versetzt und einige Monate später wegen Schwangerschaft aus dem Schuldienst entfernt. Der hiesige Schulgehilfe, „Zuhälter der liederlichen Oberlehrerin“ wurde „vermahnt“ und mit Strafe bedroht, ebenso ein wei­terer Lehrer, der der „treu­este Kompagnon der liederlichen Schullehrersippschaft dahier war“. Zu­sammen mit einem weiteren Lehrer werden sie als „liederliches Kleeblatt“ bezeichnet.

Im Jahr 1882 wurde Max Muggenthaler Pfarrer von Tittling. Die Zahl der Einträge in die Pfarrchronik wurden weniger und konzentrierten sich jetzt mehr auf den notwendigen Bau der neu­en Pfarrkirche St. Vitus und auf positive Ereignisse in der Pfarrei Tittling. Nur ein kritischer Eintrag sticht in seiner Zeit heraus.

Tittling, ein Strafposten für einen Geistlichen?

Für Geistliche schien Tittling so etwas wie ein Strafposten gewesen zu sein. So wird 1887 in der Pfarrchronik von der Versetzung des Kaplans Joseph Bergmeier nach Tittling geschrieben. Dieser hatte von der Versetzung in Konstanz erfahren. Auf diesen Schrecken hin verging ihm alle Lust am Weiterreisen. „Nur mit größtem Widerwillen ging er nach seinem so verschrienen Posten. Noch be­vor er nach Tittling kam, hatte er schon um Versetzung angehalten. Doch er musste wohl oder übel ein Jahr aushalten.“

Dies lässt den Schluss zu, dass die örtlichen Geistlichen ihr negatives Urteil über die Tittlinger nicht nur der Pfarrchronik anvertraut haben, sondern über lange Zeit ihr Leid auswärtigen Geistlichen ge­klagt haben. Eine großräumige Ausbreitung dieser abwertenden Aussagen über lange Zeiträume war die Folge und verfehlte nicht ihre Wirkung.

Laut Passauer Zeitung gehörte Tittling zu den Orten mit besonders kämpferischen Expositi und Ka­plänen.

Auch die vermehrt erscheinenden Zeitungen hatten ihren Anteil an der Verbreitung der Negativmel­dungen. Berichte über Tittling gab es auch in überregionalen Zeitungen. Jede neue Nachricht über eine Straftat oder moralische Verfehlung verfestigte in der Regi­on die seit alters her bestehende Meinung, dass es in Tittling besonders schlimm zugeht, die Reden­sart vom Deckel über der Hölle sicher nicht unberechtigt sei.

Das Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch ist zeitlos.

Ab der Grundsteinlegung 1889 bis 1908 gibt es keine Einträge in der Pfarrchronik. Später wurde meist ausführlich über den Eisenbahnbau berichtet.

Die neue Pfarrkirche St. Vitus – die Pforte des Himmels

Pfarrer Max Muggenthaler reagierte auf den Ruf Tittlings, der Deckel über der Hölle zu sein, auf subtile Art. Über das Portal des Haupteingangs der 1893 fertig gestellten heutigen Pfarrkirche St. Vitus ließ er in lateinischer Schrift die Botschaft „hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und die Pforte des Himmels“ anbringen. Da konnte sich jeder seine ganz persönlichen Gedanken machen.

Jüngere Vergangenheit

Trotz dieses Hinweises am Kirchenportal gab es immer wieder Vorfälle, die an die Redensart vom Deckel über der Hölle erinnerten.

So kam es 1937 zur Aburteilung einer Bande Auswärtiger, die im Raum Tittling zahlreiche Einbrü­che und Überfälle verübt hatte.

Überregionales Aufsehen erregte 1954 der sogenannte Weibertausch von Tittling.

Und dass Straftaten und Verbrechen nicht nur in Großstädten verübt werden, weiß heute jeder. Ge­rade weil sie auf dem Land weniger oft geschehen, erregen sie umso mehr Aufsehen.

Dank verbesserter Informati­onsmöglichkeiten weiß man, dass Verfehlungen und Verbrechen überall stattfinden und stattge­funden haben und verallgemeinernde Aussagen immer problematisch sind.

Ein Resümee:

Die zentrale, verkehrsgünstige Lage sorgte ganzjährig für ein reges Leben im Ortskern.

Tittling war schon immer Treffpunkt vieler Menschen. Hier war viel mehr los, als in abgele­generen Orten. Die Markttage und die Händler und Handwerker am Ort zogen viele Auswär­tige an. Es entwickelte sich ein besonderes Selbstbewusstsein der Tittlinger.

Es gab mehrere Gasthöfe im Ortskern, in denen das Bier der örtlichen Brauerei reichlich floss. Die Auswirkungen von übermäßigem Alkoholgenuss lesen wir regelmäßig in der PNP.

Tittling hatte bis Anfang des 19. Jahrhunderts ein Hofmarkgericht. Alle Vergehen wurden Tittling zugerechnet, auch wenn die Täter oder Opfer gar nicht am Ort wohnten.

Im Jahr 1817 wurde die örtliche Gendarmeriestation eingerichtet, zuständig für den nord­westlichen Bereich des Altlandkreises Passau.

Die Moralvorstellungen waren früher viel, viel strenger als heute.

Bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mittellosen Menschen, und das war der Großteil der Bevölkerung,  eine Heiratserlaubnis verweigert. 

Alle Nachrichten aus Tittling verbreiteten sich schnell in der Umgebung und zeichneten oft ein einseitiges Bild. Die Geistlichkeit war daran stark beteiligt.
Manche Erzählungen dürften im Laufe der Zeit durch Hinzufügungen und Übertreibungen eine besondere Dynamik erhalten haben.

Im 19. Jahrhundert kam es zu heftigen Konflikten zwischen Geistlichen und größeren Teilen der Bür­gerschaft, die für Gesprächsstoff in einem weiten Umkreis sorgten.
Zum offensichtlichen Selbstbewusstsein der Tittlinger kam noch neues, liberales Gedanken­gut durch Neubürger (Lehrer, Apotheker, Arzt, Gendarmeriebeamte) und ein Aufbegehren gegen bisherige Autoritäten hinzu.

Mit der Redensart „Tittling, der Deckel über der Hölle“ hatte der Ort einen Stempel verpasst bekommen, mit dem Auswärtige die Tittlinger so richtig necken und ärgern konnten.

Die Redensart muss schon vor 1864 in Gebrauch gewesen sein.

Heute kennen nur noch einige ältere Bürger den Spruch vom „Deckel über der Hölle“. Aber warum unser Ort früher dieses wenig schmeichelhafte Prädikat verliehen bekommen hat, konnte mir nie­mand erklären. Aber ein wohl damit zusammenhängender, mit Sicherheit verallgemeinender Ausspruch aus den 1950er-Jahren fiel ei­nigen dann doch wieder ein: In Tittling wenn‘s brennt, kommt jeder Mann aus einem fremden Haus raus!“

Quellenangaben

Allgemeine deutsche Bürger- und Bauernzeitung, Pustet, Regensburg, 10.1833, S. 592

Donauzeitung, 16.03.1871, Nachrichten aus Niederbayern

Fischl, Michael,

- Vor den Schranken eines Hofmarkgerichts im Jahre 1588, Archiv für das Dreiburgenland, Heft 10, Tittling: Verlag Herbert Dorfmeister, 1999

- heimatkundlicher Beitrag im Tittlinger Amtsblatt, November 1993

- Archiv für das Dreiburgenland, Heft 4, Die Gen­darmerie in Tittling, S. 25

- heimatkundlicher Beitrag im Tittlinger Amtsblatt, Januar 1992

Franz Josef, Bayerisches Schelmen-Büchlein, Diessen: Huber, 1911, Auflage A;

Haller, Reinhard, Aufzwickt, Grafenau: Morsak, 1984

Passauer Zeitung, 28.09.1871

Pfarrchronik Tittling, 1844, 1850 – 1869, 1875, 1878, 1878

Seidl, Helmut A., Sprichwörtliches über Altbayern, Pustet, 2013

Setzer Ludwig, Chronik des Marktes Tittling, Verlag Dorfmeister, Tittling, 1979, S. 162 ff

Sterbebuch Tittling 014_01, S. 270, 10. April 1869
Detaillierte Quellenangaben erhalten Sie über den Markt Tittling beim Verfasser.

Herbert Zauhar, 2017